Expertengespräch: „Besucher wollen abgeholt werden“

WANDEL Konstanze Senge und Daniel Loeschke sind Innenstadtexperten – sie ist Professorin an der Uni Halle und er berät bei der IHK. Sie wissen, was die  Kunden wollen und der Handel für eine Zukunft in Sachsen-Anhalt braucht.

Konstanze Senge, Soziologie-Professorin, Foto: Maike Glöckner; Daniel Loeschke, IHK-Experte, Foto: Andreas Stedtler
Konstanze Senge, Soziologie-Professorin, Foto: Maike Glöckner; Daniel Loeschke, IHK-Experte, Foto: Andreas Stedtler

Online-Handel, Inflation, geschlossene Kaufhäuser: Innenstädte haben es heutzutage nicht überall  leicht. Betroffen sind  Kunden und   Handel gleichermaßen. Als potenzielles Damoklesschwert  kommen in Sachsen-Anhalt vielerorts schrumpfende Einwohnerzahlen  dazu. Die Bertelsmannstiftung prognostiziert etwa bis 2040 einen Bevölkerungsrückgang von 12,3 Prozent – so viel wie in keinem anderem Bundesland. Wie konnte das passieren? Woran liegt es, dass Kunden fehlen? Ist es die zu geringe Attraktivität des Handels?

Gute Ansätze zu finden, Innenstädte wiederzubeleben, ist kein leichtes, aber ein mögliches Unterfangen. Florian Zellmer und Benjamin Telm haben zu diesem Thema  mit zwei Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft gesprochen. Konstanze Senge, Professorin für Wirtschafts- und Organisationssoziologie  an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Daniel Loeschke, Referent für Handel bei der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, geben im Interview Antworten  dazu,  wie es um Sachsen-Anhalts Innenstädte steht: Was sie unterscheidet, was den Kunden fehlt, was die Läden brauchen und ob der Online-Handel den Tod der Innenstädte bedeutet.

Frau Senge, Herr Loeschke, was ist Innenstadtbesuchern besonders wichtig?

Daniel Loeschke: Generell lässt sich beobachten, dass der Einzelhandel nicht mehr der einzige Anker eines Innenstadt-Ausfluges ist. Besucher wollen abgeholt werden. Aber nicht nur vom Handel. Alle Innenstadtakteure – Händler, Gastronomen, auch Freizeitdienstleister – müssen die Kunden aus einer Hand ansprechen. Das ist, was heutzutage erwartet wird. Das Thema Mobilität spielt dabei eine große Rolle, genauso wie die Aspekte Barrierefreiheit, Aufenthaltsqualität, Sauberkeit, Sicherheit, genügend öffentliche Toiletten und attraktive Öffnungszeiten.

Konstanze Senge: Das stimmt. Bei den Innenstädten geht es schon längst nicht mehr darum, nur wirtschaftlich attraktiv zu sein, sondern auch um Lebensqualität. Die Stadt Blieskastel im Saarland etwa initiiert sich als „essbare Stadt“. Dort wachsen überall im Stadtgebiet essbare Pflanzen, die jeder pflücken kann. Das bringt eine gewisse Attraktivität, die an den Trend der Nachhaltigkeit andockt und die Menschen für die Stadt begeistert.

Gekauft wird also online und die Innenstadt dient der Unterhaltung?

Senge: Zumindest aus Sicht der Händler ist das gar nicht mehr so differenziert zu sehen, weil viele Einzelhändler auch ein Online-Geschäft haben. Bereits vor der Pandemie ist der Online-Handel gewachsen. Und in der Coronazeit haben viele noch stärker auf diesen Bereich gesetzt. Eben auch, um den Umsatzrückgang in Grenzen zu halten. Insgesamt hatten wir während der Zeit ein Hoch in der Entwicklung des Einzelhandels. Mittlerweile ist der Online-Handel wieder leicht rückläufig. Man geht davon aus, dass sich das Kaufverhalten wieder normalisiert hat.

Dennoch ist es noch immer so, dass der Präsenz-Einzelhandel in vielen Städten aus unterschiedlichen Gründen Probleme hat. In den großen Städten wie Hamburg, Berlin oder München ist der Einzelhandel in den Innenstädten zumindest stadtteilabhängig noch lebendig. In den Städten, in denen die Kaufkraft der Bevölkerung schwindet, geraten der Handel und die Märkte insgesamt unter Druck.

Loeschke: Da kann ich nur zustimmen. Der Onlineverkauf ist nicht die Bedrohung für den klassischen Einzelhandel, als die er häufig wahrgenommen wird. Im vergangenen Jahr wurden ungefähr zehn Prozent der Verkäufe im Einzelhandel online abgewickelt. Das ist nicht viel mehr als zu Zeiten, in denen die Menschen noch auf Kataloge zurückgegriffen haben. Dennoch müssen bei uns in Sachsen-Anhalt einige Geschäfte mehr als andere dafür tun, um wahrgenommen zu werden. Das Bummeln durch die Innenstadt gibt es zwar noch, aber das Kaufverhalten ist ein Stück weit digitaler geworden – vor allem bei den Jüngeren. Es ist heutzutage extrem wichtig für den Einzelhandel, auch digital ausreichend präsent zu sein. Die Läden dürfen nicht unter dem Radar bleiben. Natürlich muss nicht jeder einen eigenen Onlineshop haben. Das ist illusorisch. Aber in einer Stadt, die viele Geschäftstätige oder Touristen anzieht, muss man auffindbar sein.

Die großen Geschäfte haben es da einfacher. Hinter ihnen steckt oft mehr Finanzkraft  und Manpower. Bei den kleineren muss oft eine Person alles machen: online aktiv sein, aber auch analog im Laden stehen. Dazu kommt, dass das Besucherlevel noch immer nicht wieder auf Vor-Corona-Niveau ist.

Das war es dann also mit den kleinen Städten?

Loeschke: Nein, grundsätzlich nicht. Es gibt viele Beispiele für erfolgreiche Kleinstädte mit attraktiver Innenstadt. Aber falls man nichts dafür tut, also die Stadt selbst und die zugehörigen Unternehmen, dann ist zu befürchten, dass es sich nur noch zur Nahversorgung hin entwickelt. Das heißt: Lebensmittel, Drogeriemarkt und so weiter. Es ist ein mögliches Szenario, dass die kleineren Läden drumherum immer weiter schließen werden. Die Entwicklung sieht man mit bloßem Auge.

Wie können die Innenstädte wieder stärker belebt werden?

Loeschke: Es ist wichtig, mit den Kundenbedürfnissen zu arbeiten. Die kleinen Händler haben zumindest den Vorteil, dass sie ein bisschen flexibler sind als die großen. Also können sie mit der Anpassung ihrer Waren auch schneller auf die Nachfrage reagieren. Sie müssen bei Themen wie Service, Beratung und Verfügbarkeit punkten. Vor allem eine sehr gute Beratung ist für Kunden der Grund, einen höheren Preis zu zahlen und auch wiederzukommen.

Senge: Aus meiner Sicht wären Kaufhäuser ein Baustein  für die Zukunft, um Innenstädte kleinerer Städte weiter zu beleben, weil man dort alles bekommt. Aber da haben sie jetzt noch ein anderes Problem, nämlich die hohen Mietpreise, weil die Immobilien in der Regel in der Hand von Investoren sind. Der Kaufhof in Halle etwa hatte durchaus repräsentative Umsätze, aber die Mieten waren so hoch, dass er deshalb dennoch geschlossen werden musste. Das Einführen einer vernünftigen Mietpreisstruktur wäre also hilfreich.

Für die Belebung von kleinen Ortschaften steht die Existenz von  Schulen an erster Stelle. Nur dann sind Regionen attraktiv für junge Familien mit Kindern.  Aus meiner Sicht nimmt der Belebungsversuch da seinen Anfang und damit endet er aber auch. Wenn eine Schule in einem Ort geschlossen wird, dann ist es das Aus.

Schulen? Haben denn junge Familien überhaupt solch eine Kaufkraft?

Senge: Junge Leute bringen Kreativität und  Innovation. Auch wenn die Jugend eher onlineaffin ist, profitiert unterm Strich ein Ort davon. Es ist belegt, dass insbesondere Hochschulen, aber auch ähnliche Institutionen eine massive Ausstrahlungskraft  für andere Institutionen, Geschäfte et cetera haben. Das gilt ebenfalls für neue Wirtschaftszweige.  Diese Einrichtungen sind ein Wachstumsmotor.

Welche Maßnahmen zur Unterstützung gibt es?

Loeschke: Während der Pandemie gab es viele Fördergelder für Projekte, etwa ,Zukunftsfeste Innenstädte’. Die sind gerade in der Umsetzung. Wir als IHK haben auch vor Corona schon ein erfolgreiches Projekt mit auf die Beine gestellt. Das nennt sich ,Heimat shoppen’. Das sind Aktionstage für den Einzelhandel, an denen die Kunden nochmal extra ins Geschäft gelockt werden sollen. Um zu zeigen, welche Bedeutung dem Einzelhandel für ihre Region zukommt und was er zu bieten hat.

Wie werden unsere Innenstädte in der Zukunft aussehen?

Senge: Dass Menschen vermehrt in die  Innenstädte gehen werden, um die Geschäfte zu unterstützen, trifft zumindest nicht für die Großstädte zu. Dort ist es einfach zu anonym. In Städten  bis zu  200.000 Einwohnern sieht das, glaube  ich, anders aus. In den Fällen ist es denkbar, dass man sich  mehr mit der Stadt  identifiziert und die Geschäfte unterstützen möchte. Das wird aber sicherlich nur für eine relativ begrenzte Anzahl an Personen zutreffen. Ich glaube also nicht, dass sie die Geschäfte dadurch retten können.

Dazu kommt allerdings, dass die  Menschen zunehmend unzufrieden sind mit der Kaufabwicklung im Online-Handel. Das ist jetzt so eine Art Prognose von mir, aber  durch den Personalmangel wie etwa bei den Zustellern als auch durch das Vernichtungsverbot umgetauschter Ware  werden Produkte mitunter teurer und der Online-Handel unattraktiver für die Kunden. Außerdem wird auch der Kundenkontakt zunehmend automatisiert, was bei vielen auf Ablehnung stößt.

Loeschke: Auch wenn der Online-Einkauf in Zukunft etwas unattraktiver werden sollte, sind wir von den Besucherzahlen, die in den Innenstädten vor Corona da waren, noch immer weit entfernt. Ich gehe auch in einem Szenario mit weniger geopolitischen Krisen nicht davon aus, dass sich alles dorthin zurückentwickelt, wo es früher mal war. Wichtig bleibt wie gesagt, Anreize zu schaffen, die Kunden in die Zentren zu locken und online präsent zu sein.